Emmas kleine Kotzkunde

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Kapitel 1: Kotzen für Anfänger

Regel 1: Niemals gegen den Wind kotzen (auch nicht gegen den Wind pinkeln)!

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Regel 2: Immer die Haare zusammenbinden (mach ich allerdings nie)!

Regel 3: Immer in die Schüssel kotzen (bei mir auch oft daneben).

Regel 4: Niemals vorher Blaubeeren essen (sonst gibt es blaue Flecken auf den Leinen).

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Kapitel 2: Kotzen für Fortgeschrittene

Regel 5: Wenn gerade keine Schüssel da ist, Kopf auf die Brust, T-Shirt/Anzug vorziehen und in den/das T-Shirt/Anzug kotzen.

 

Kapitel 3: Gar nicht Kotzen

Regel 1: Vomex nehmen.

Regel 2: Stugeron aus England importieren und vor der Fahrt nehmen.

Regel 3: Immer nach vorne gucken.

Regel 4: In Mamas Namen auf Mamas Handy Tante Maren Threemas schicken.

 

Kapitel 4: Kotzen für Meister

Auf dem Level bin ich noch nicht!

Das Land der doppelten Buchstaben

Als nächstes kommen wir nach Estland. Auf der Lotsenkarte der östlichen Ostsee, die seit letztem Jahr zu Hause an unserem Kühlschrank hängt, hat Emma den Namen in „Essland“ geändert (und Litauen in Lilauen).

Das erste Stück Estland, das wir zu sehen bekommen, ist die Insel Saaremaa und deren Hauptort Kuressaare. Man merkt es gleich, auch hier und nicht nur in Finnland sind doppelte Buchstaben sehr beliebt. Außerdem ist alles unheimlich sauber und ordentlich.

ausgebaumte Genua
ausgebaumte Genua

Nach einer Nacht und einem Tag auf See in recht ruhigen Bedingungen, motorsegeln mit achterlichem Wind, für ein paar Stunden ist der Motor auch aus, fahren wir durch eine lange ausgebaggerte Zufahrtsrinne und kommen in einen netten kleinen Hafen mit ruhiger Abendstimmung.

Ankommen in Kuressaare
Ankommen in Kuressaare

Ein anderes deutsches Boot gibt uns Liegeplatzhinweise. Der Hafenmeister ist schon gegangen aber der „Sadaama Pubi“ hat noch auf (Sadaam heißt Hafen und Pubi ist wohl aus England importiert).

Abendruhe in Kuressaare
Abendruhe in Kuressaare

Am nächsten morgen stellt sich heraus, daß der Hafenmeister für EUR 40 ein Auto vermietet. Der Vermietvorgang besteht nur aus dem Vorzeigen eines Führerscheins und dem Ausfüllen eines kleinen Formulars. Das Auto steht auf dem Parkplatz gleich daneben. Alles zusammen dauert keine 5 Minuten. Daran können sich Hertz und Co ein Beispiel nehmen. 5 Minuten vom Betreten des Büros bis zum Wegfahren schafft man nicht mal mit der Platin-Diamant-Kundenkarte. Im Hafen von Las Palmas auf Gran Canaria ging es 2014 allerdings noch unkomplizierter. Wir hatten von anderen Seglern gehört, daß man von einem dort wohl hängengebliebenen Segler vom ersten Boot an unserem Steg Autos mieten kann. Wir klopfen an. Ein Kopf taucht auf. Wir tragen unser Anliegen vor. Er stellt nur eine Frage: „Wie heißt euer Boot und wo liegt ihr?“. Mit der Antwort zufrieden sagt er, daß das Auto da hinten steht, daß die Tür offen ist, der Zündschlüssel unter der Fußmatte liegt, wir wieder tanken sollen und das Auto genau so dort wieder abstellen sollen. Die Mietgebühr soll auch unter die Fußmatte, natürlich in bar. Da kommt wohl niemand anders mit.

Meteoritenkrater auf Saaremaa  - der Meteorit soll nur 3 bis 6m Durchmesser gehabt haben
Meteoritenkrater auf Saaremaa – der Meteorit soll nur 3 bis 6m Durchmesser gehabt haben

Mit dem Auto fahren wir auf Saaremaa herum, zu einem Meteoritenkrater und einer Windmühlenausstellung sowie zu einem „Selver“ Supermarkt.

Windmühlenmuseum
Windmühlenmuseum

Es ist eine süße Insel, die stark an Schweden erinnert. Dorthin gab und gibt es wohl vielfältige Beziehungen. Als gegen Ende des 2. Weltkriegs die rote Armee anrückte, sind viele der Eingeborenen nach Schweden geflohen.

Festungsanlage von Kuressaare mit Stuhl davor
Festungsanlage von Kuressaare mit Stuhl davor

Am nächsten Tag geht es weiter durch einen Sund zwischen mehreren Inseln und dem Festland Richtung Tallinn, der estnischen Hauptstadt. Unterwegs nach Saaremaa hatten wir uns schon entschieden, den Wettlauf gegen die Zeit aufzugeben. Wir haben unser Visum für Rußland zu früh bestellt (meine ich) bzw. ich habe zu lange mit Erledigungen herumgetrödelt (meint Birgit). Jetzt müßten wir wild hetzen, um kurz vor Ende des Visums mit dem Boot nach Sankt Petersburg zu kommen, damit wir uns dort wenigstens noch kurz umsehen können. Das ist anstrengend und wird irgendwie zu einem Selbstzweck, der keinen Sinn macht. Damit wir trotzdem nach Rußland kommen, wollen wir von Tallinn aus mit dem Bus hinfahren – ca. 280km für nur etwas über 100 Euro für uns drei, hin und zurück.
So geht es also etwas ruhiger aber noch nicht entspannt nach Tallinn mit einem Zwischenstop im nagelneuen und sterilen Fährhafen Kuivastu. Am ersten Tag kommt uns ein riesiges Regattafeld entgegen. Das in Führung liegende Boot passiert uns in einer viertel Meile Abstand. Wir können die Crew auf der hohen Kante sitzen sehen. Sie kommen von Tallinn und es geht wohl in einem Rutsch nach Danzig (dort war angekündigt, daß die ganze Marina gesperrt sein würde für eine Regatta). Ich weiß nicht, ob ich Lust hätte, in meiner Freizeit 550 Meilen, 3 Tage und Nächte oder auch länger, auf der hohen Kante zu sitzen. Aber sollte einem schlecht werden, ist man gleich optimal positioniert.

Fahren nach Linien
Fahren nach Linien

Ab Kuivastu geht es durch verwinkelte Fahrwasser zwischen kleinen und großen Inseln und in flachem Wasser mit großen Steinen drin. In der Karte sind deshalb Linien eingezeichnet, zusätzlich zu eventuell vorhandenen Fahrwassertonnen. Bleibt man auf der Linie, ist man sicher, weil alle hier langfahren, und wenn niemand vor uns auf einen Stein gebrummt ist, sind wohl keine da. Weicht man ab, geschieht das auf eigenes Risiko. Das „Linienfahren“ wird uns längere Zeit erhalten bleiben, von Estland über Finnland und Schweden bis südlich von Stockholm. Es ist immer noch Hochdruckwetter mit wechselnden schwachen Winden aus achterlichen Richtungen – also wieder Motorsegeln mit kurzen Segeleinlagen.

Harry Potter Band 4
Harry Potter Band 4

Bis Tallinn sind es 90 Meilen, von Vormittags bis Mitternacht. Wenn es etwas geradeaus geht und wir Empfang haben, sehe ich nach Liegemöglichkeiten in Tallinn und lese sonst in einem Segelbuch auf Kindle – das geht gut im Cockpit mit meinem Handy. Emma macht Schule, sieht Mediathek-Folgen, die ich mit Hilfe eines Mediathek-Download-Programms und einem VPN beschafft habe, oder liest Harry Potter (aus dem Ausland funktioniert die ZDF Mediathek nicht aber mit dem VPN kann man so tun, als wäre man in Deutschland).

kleine Wäsche unterwegs
kleine Wäsche unterwegs

Birgit ist Lehrerin in Emmas Schule, wäscht etwas Wäsche und legt einen Wellness-Tag ein mit Strähnen färben. Zwischendurch stelle ich für eine halbe Stunde den Motor aus und genieße bei 4 bis 5 Knoten Fahrt die Abendruhe. Danach weiter motoren – wir wollen schließlich irgendwann ankommen.

Sonne geht unter
Sonne geht unter
Mond geht auf
Mond geht auf

Gegen Mitternacht motoren wir bei spiegelglattem Wasser über die Bucht von Tallinn, zusammen mit ein paar wie Christbäume beleuchteten Fähr- und Kreuzfahrtschiffen. Es geht nicht in die „Old City Marina“ im Zentrum von Tallinn sondern nach Pirita, ein riesiger Yachthafen in zerbröckelnder 70er-Jahre Betonarchitektur. Es ist das Segel-Olympiazentrum, das zu den Moskauer Olymiaspielen von 1980 gebaut wurde, und es ist kein Stück schöner als Kiel-Schilksee (1976er Olympiade in München). Hier ist es aber viel billiger als in Tallinn (31 statt 55 Euro) und wir wollen ja drei Tage nach Sankt Petersburg.

Fast vorbeigefahren

Nach dem schlechten Wetter in Klaipeda gab es ein Hochdruckgebiet. Allerdings waren wir schon wieder direkt drunter und die Windrichtung war wieder nicht wie angesagt. Als wir in Klaipeda losgefahren sind, hatten wir mit westlichem oder nordwestlichem Wind gerechnet. Das war er auch für ein paar Stunden aber dann drehte er auf Nord und blieb dort.

letztes Licht beim Einlaufen in Liepaja
letztes Licht beim Einlaufen in Liepaja

Nach etlichen Stunden Gegenanmotoren hatten wir genug und haben uns entschlossen, in der Stadt Liepaja eine Pause einzulegen. Dadurch sind wir doch nicht an Lettland vorbeigefahren und unsere lettische Gastlandflagge (rot-weiß-rot gestreift, der weiße Streifen dünner ist als die roten) war doch zu was nütze.

Hafenarbeiter beim Einlaufen
Hafenarbeiter beim Einlaufen

Ich hatte eine Industrieansammlung erwartet und wurde positiv überrascht. Der Hafenkanal war eine Industrieansammlung aber diese hier duftete nach frisch geschnittenem Holz, den hier wird Holz verladen statt Öl. Uns wurde zugewinkt von Arbeitern, die ein Frachtschiff beluden und wir bekamen einen ausgestreckten Daumen für unsere deutsche Flagge. Am kleinen Schwimmsteg für Yachten waren nur Gastboote und die Finnen aus Klaipeda waren auch schon da, um wie wir hier auf Südwind zu warten.

Hafenkanal am Morgen
Hafenkanal am Morgen

Am nächsten Morgen schien die Sonne und der Wetterbericht verhieß für den Abend einschlafenden Wind und ab Mitternacht Südwind. Der Stop war also eine gute Idee und hat uns 100sm Gegenanmotoren erspart.

morbider Industriecharme
morbider Industriecharme

Wir haben also den Tag in der Stadt verbracht und sie hat mir gefallen.

Stadtplan
Stadtplan

Es gab z.B. einen 3D-Stadtplan zum anfassen und eine schicke Konzerthalle aus orangem Glas, in der man herumlaufen konnte.

Konzerthalle von innen - wer findet unser Boot?
Konzerthalle von innen – wer findet unser Boot?
Dieser Fensterputzer hat noch ordentlich was vor
Dieser Fensterputzer hat noch ordentlich was vor

Ein erheblicher Teil der Häuser ist aus Holz, viele davon etwas heruntergekommen, andere gut in Schuß und sogar mit Bankfilialen drin.

Emma beim Sportunterricht
Emma beim Sportunterricht

Der Tag war auch für Emma ein Erfolg, denn in einem Park auf dem Weg zum Strand gab es ein vierrädriges viersitziges Tretmobil mit Elektrounterstützung zu mieten. Der Motor arbeitete nur, wenn man auch selbst tritt, aber Emmas Kraft allein hat dafür gereicht. Birgit und ich wurden eine halbe Stunde durch den Park kutschiert. Wir haben es zum Sportunterricht erklärt. Die Spannung stieg, als es ein abschüssiges Stück herunterging. Das Lenkrad hatte eine halbe Umdrehung Spiel, Emma war zu schwach für die Bremse und der Weg war voller Fußgänger. Also habe ich gebremst und Birgit hat Huperäusche gemacht, um die Fußgänger zu warnen. Unten hieß es sofort: „Nochmal!“

Am Strand sind wir nur ein paar Minuten rumgestanden und dann wieder gegangen. Wir sind halt keine Strandurlauber.

saussss - endlich haben wir eine Kamera, mit der man solche Fotos machen kann
saussss – endlich haben wir eine Kamera, mit der man solche Fotos machen kann

Als ich um 23h das Boot für die Weiterfahrt klar gemacht habe, lief ein Rockkonzert in einem Club direkt neben uns – noch ein nettes Erlebnis in diesem Notstopp. Einem Rockkonzert von Bord aus zuzuhören hatten wir schon einmal, in Angra Do Heroismo auf der Azoreninsel Terceira, aber hier war die Musik viel besser. Liepaja gehört jetzt auch zu unseren besonderen Boots-Erlebnissen wie schon zum Beispiel ein Konvoi mit 20 anderen Booten durch die Altstadt von Amsterdam mitten in der Nacht.

kann man bestimmt kaufen...
kann man bestimmt kaufen…

Die Nachtfahrt dann war viel angenehmer als die von Danzig, bei klarem Himmel und angenehmer Temperatur.

Licht aus dem Norden
Licht aus dem Norden

Die ganze nur 4 Stunden lange Nacht konnte man deutlich die Sonne aus dem Norden zu uns herunter leuchten sehen. Norden wir kommen!

Puke-a-thon

Diesen Begriff habe ich auf einer englischen Segelseite entdeckt und er beschreibt sehr gut eine Disziplin, in der es kaum einer der geneigten Leser mit mir aufnehmen kann: Marathon-Kotzen. Auf den Sommertörns der letzten beiden Jahre ist es etwas in Vergessenheit geraten aber jetzt habe ich wieder einmal gezeigt, daß ich über die Jahre nichts verlernt habe.

Anlaß war ein 120sm Schlag von Danzig nach Klaipeda in Litauen.

Klaipeda war mal der Sitz des preußischen Königs
Klaipeda war mal der Sitz des preußischen Königs

Wenn man lange genug schlechte Wettervorhersagen verfolgt(Wettervorhersagen sind für Segler etwa dasselbe wie Aktienkurse für Hobbyinvestoren), dann betrachtet man etwas als Fenster, das man andernfalls als Grund gesehen hätte, liegenzubleiben. So kam es, daß wir aus Danzig ausgelaufen sind mit einer Vorhersage von 20 Knoten in Böen 25 (5 bzw. 6 Beaufort) bei halbem Wind (Windrichtung im rechten Winkel zu unserem Kurs). Dabei hatte ich verdrängt, daß das Tiefdruckgebiet direkt über uns wegziehen würde und deshalb schon eine kleine Änderung der Zugbahn große Auswirkungen auf die Windrichtung haben würde und sich die Vorhersage deshalb auch mehrere Male in Folge erheblich verändert hatte. Tatsächlich hatten wir vorlichen wahren Wind und deshalb noch vorlicheren scheinbaren Wind – so gut wie hoch am Wind. Und es war ein alter Schwell von den vorausgegangenen Starkwind-Tagen übrig, bei dem ich auf Atlantik und nicht auf Ostsee getippt hätte.

Es war also keine schöne Strecke aber irgendwann waren wir trotzdem da und es war ja nun auch keine neue Erfahrung für uns. Emma hat irgendwann zum Glück geschlafen und ich konnte in den Freiwachen schlafen und hatte dadurch Kotzpause. Birgit hat allerdings gar nicht geschlafen. Wegen Sorgen, ich könnte über Bord gegangen sein, wenn eine Weile keine einschlägigen Geräusche von mir zu hören gewesen waren. Ich habe nicht gefragt, ob sie sich um mich sorgte oder nur Angst hatte, sie müßte das Boot unter diesen Umständen allein nach Klaipeda bringen.

Zwar kann man auf unserem Boot kaum beim Übergeben über Bord fallen, denn es gibt einen exzellenten Platz dafür, zwischen zwei V-förmigen Rohren des Bimini-Gestells, aber das half wohl auch nichts. Ich habe ein ingeniöses System für eine Sicherungsleine im Cockpit entwickelt, bei der ein Gurtband als loser Ring um die beiden Sockel des Cockpittisches geführt ist und der Haken des Sicherungsgurtes an diesem Ring eingehängt ist. Sollte man das wollen, könnte man damit angeleint Runden um unseren Cockpittisch joggen. Die Länge des Sicherungsgurtes ist so, daß man an keinem Punkt die Reling erreichen kann. Das soll so sein – ein guter Gurt soll ja verhindern, daß man über die Reling geht oder zwischen Deck und dem unteren Relingsdurchzug durchrutscht – bloß beim Kotzen ist es unpraktisch. Ich versuche, da noch mal was zu verbessern.

Der erste Eindruck von Klaipeda war schlecht: Industriewüste, Geruch nach Ölraffinerie, ein riesiges Kreuzfahrtschiff direkt neben der Anlegestelle für Yachten, heulender Wind und Dauerregen. Birgit war trotzdem schon eingeschlafen, bevor der letzte Festmacher dran war. Ich dagegen hatte die perfekt ausgeschlafene Emma am Hals bzw. zu beschulen. Erst mal ein paar TUC-Kekse mit Butter machen … Nach kurzer Zeit kam der Hafenmeister und teilte mit, daß wir den Platz wieder räumen müßten. Unterbrochen durch laute Durchsagen vom Kreuzfahrtschiff, wann sich welche geführte Gruppe wo an Bord treffen soll, habe ich geantwortet, daß ich den Platz auch gern schnell wieder räumen möchte, er dazu aber bitte erstmal einen besseren finden soll. Er hat uns dann einen im viel netteren inneren Hafen in einem ehemaligen Schloßgraben gefunden und wir durften auch noch ein paar Stunden warten mit dem Verholen, damit Birgit noch eine Weile schlafen konnte. Auch die gefürchtete Zollabfertigung blieb uns erspart. Es hätte Birgit bestimmt nicht gefallen, von eimem litauischen Zöllner geweckt zu werden. Wir waren bei der Annäherung an Klaipeda noch auf See über Funk gerufen worden mit Fragen zu Flagge, letztem Hafen, Personen an Bord und deren Nationalität. Man hat uns gesagt, wir sollten uns wieder melden, wenn wir festgemacht hätten. Als ich mich dann gemeldet habe, gab es nicht den erwarteten Besuch von Zollbeamten sondern nur die Aufforderung, uns bei der Abfahrt über Funk wieder abzumelden.

Die Drehbrücke wird geöffnet
Die Drehbrücke wird geöffnet

In den Schloßgraben gelangt man durch eine historische Drehbrücke, die stündlich von zwei Hafenmeistern mit Muskelkraft geöffnet wird, die dazu zigmal im Kreis laufen müssen. Der Liegeplatz war gut – ohne Ölgestank, dafür mit rauschenden Bäumen und neben dem einzigen fremden Boot – aus Finnland.

Der Klabautermann kommt über die Hafenmauer gekrochen
Der Klabautermann kommt über die Hafenmauer gekrochen

Als Bootsreisender hebt man angesichts eines neuen Hafens immer den Blick auf die Masten und sucht nach welchen mit Gastlandflaggen dran. Das sind fremde Boote, die meistens bewohnt sind, und von denen man viele Dinge über den Ort oder das Land, das Wetter und die Weiterreise erfahren kann.
Die Finnen Matti und Riitta waren schon mehrere Tage da, wegen schlechten Wetters, und haben uns mit wissenswertem über die Stadt versorgt und später auch über finnische Häfen.
Die Stadt machte auf mich einen ganz netten aber irgendwie doch ein wenig trübseligen Eindruck. Ich hatte vor dieser Reise außer mit Ost-Berlin keine Erfahrung mit der ehemaligen Sowjetunion und lerne jetzt langsam dazu. Gut gefallen hat mir, daß keiner der Läden in der Altstadt zu einer Kette gehört. Auch in Danzig war nur das große Einkaufszentrum voller Ketten – die allerdings genau die gleichen wie in Kiel. So muß es wohl früher, als ich ein kleines Kind war, auch in Deutschland gewesen sein.

Düne mit Nida in Hintergrund
Düne mit Nida in Hintergrund

Wir waren drei Nächte in Klaipeda, wegen schlechtem Wetter. Am zweiten Tag sind wir mit Fähre und Bus auf die Kurische Nehrung gefahren. Der Hauptort Nida ist touristisch.

Hafen von Nida und einizges Boot mit Gastlandflagge
Hafen von Nida und einizges Boot mit Gastlandflagge

Es gibt außer den Wanderdünen aber auch einen Yachthafen und es lag immerhin ein Boot mit Gastlandflagge dort, aus Schweden.

Wanderdüne - die dunkle Landzunge im Hintergrund gehört schon zu Rußland
Wanderdüne – die dunkle Landzunge im Hintergrund gehört schon zu Rußland
Litauische Küche in nettem Restaurant
Litauische Küche in nettem Restaurant

Am Mittag des vierten Tages mußten die Hafenmeister wieder für uns im Kreis laufen denn es ging weiter nach Norden, möglichst an Lettland vorbei bis nach Estland, so der Plan.

Hochdruckwetter auf dem Weg nach Norden
Hochdruckwetter auf dem Weg nach Norden

Hey Teachers Leave This Kid Alone

Meine Lehrer sind doof! Papi verlängert immer die Mathestunden und Mami droht damit, in den Sommerferien Schule zu machen! Immer gleich nach dem Aufstehen sagt Mami: ,,Wir machen jetzt Unterricht“. Das hält doch kein Mensch aus und das ist noch lange nicht alles! Der Stundenplan ist doof.

schrecklich, nicht?
schrecklich, nicht?

Immer ist Mathe zuerst, das nervt! Nicht mal Frühstück kommt als erstes. Und wenn ich dann Schule, mache meckern sie mich an, daß ich etwas anderes machen soll, zum Beispiel Zimmer aufräumen oder Seebett machen. Ich wünschte, wir hätten diese Reise nicht gemacht, dann wäre ich jetzt in meiner Klasse und müsste nicht den ganzen Tag Mathe machen. Und das Schlimmste ist, daß Mami und Papi in Łeba, als wir mit den Fahrrädern zu der Wanderdüne gefahren sind, mir Geteilt- und Malaufgaben gestellt haben und noch schlimmer ist, daß ich mich immer melden muss. In meiner Klasse musste man sich nie melden! Herr Wietholz ist viel besser!!!

und dauernd müsen meine lerer  die recht schreib feler ferbesern!!!

Freiheit

heißt auf polnisch Wolności und die Danziger haben eine besondere Beziehung dazu, weil im August 1980 auf der Danziger Lenin Werft mit Solidarność die erste selbstverwaltete Gewerkschaft Polens mit uneingeschränktem Streikrecht erkämpft wurde. Unterbrochen durch das Kriegsrecht ein Jahr später, das bis 1988 galt, führte diese Bewegung – kann man wohl sagen – zu einer demokratischen Regierung für Polen, zum Zerfall der Sowjetunion und letztlich sogar zur Wiedervereinigung Deutschlands (Kohl hätte natürlich gesagt, es wäre alles sein Verdienst). Insofern muß man den Polen Respekt zollen. Wenn sie jetzt nur nicht alles damals Erkämpfte im Klo runterspülen würden – mit demokratischer Legitimierung.

Tafeln (Sperrholzplatten) mit 21 Forderungen, die an Werktor 2 angeschlagen waren - jetzt aufgenommen in das UNESCO "Gedächtnis der Menschheit", zusammen mit u.a. einem Sternenatlas von Kopernicus und der Gutenberg-Bibel
Tafeln (Sperrholzplatten) mit 21 Forderungen, die an Werktor 2 angeschlagen waren – jetzt aufgenommen in das UNESCO „Gedächtnis der Menschheit“, zusammen mit u.a. einem Sternenatlas von Kopernicus und der Gutenberg-Bibel
Pullover von Lech Walesa ...
Pullover von Lech Walesa …
... getragen bei der Unterzeichnung des Danziger Abkommens
… getragen bei der Unterzeichnung des Danziger Abkommens
Elektrischer Widerstand, den Solidarność-Kämpfer als Zeichen ihres Widerstands am Overall trugen (Walesa war Elektriker)
Elektrischer Widerstand, den Solidarność-Kämpfer als Zeichen ihres Widerstands am Overall trugen (Walesa war Elektriker)

Im Solidarity Center, einem Veranstaltungszentrum und Solidarność-Museum, das jetzt direkt neben dem Werfttor 2 steht, an dem alles begann, gibt es Tassen mit der Aufschrift „Freedom was born in Gdansk“.

Werfttor 2, jetzt mit Kopie der Tafeln. Die Werft dahinter gibt es nicht mehr, dafür jetzt das Museum
Werfttor 2, jetzt mit Kopie der Tafeln. Die Werft dahinter gibt es nicht mehr, dafür jetzt das Museum

Naja, da würden die Amis wohl auch noch den einen oder anderen Anspruch erheben. Aber, so kommt es mir vor, die Danziger wollen ihre Stadt in erster Linie als Stadt der Freiheit zeigen und erst danach als traditiondreiche Hansestadt.

Modell des großen Krans, Wahrzeichen von Danzig
Modell des großen Krans, Wahrzeichen von Danzig
und Original
und Original

Was nehme ich aus Danzig mit? Zwar wurde die Freiheit möglicherweise hier geboren, aber sie scheint noch im Kleinkind-Alter zu sein. Als ich das als Museum eingerichtete ehemalige Frachtschiff „Soldek“ besichtigen wollte und mich anschickte, an Bord herumzulaufen, wo ich wollte, wurde ich vom Wärter mit lautem Rufen herbeizitiert und aufgeklärt, daß ich dem Rundgang zu folgen hätte. Warum? Die Antwort war so etwas wie „weil es ihn nun mal gibt und weil man es so machen soll“. Daraufhin habe ich etwas genauer hingesehen und festgestellt, daß niemand bei rot über die Fußgängerampel geht. Vielleicht parkt sogar keiner der neureichen Porsches und AMG Mercedes im Halteverbot. Ich erkläre mich zum Entwicklungshelfer in Sachen Freiheit und gehe und fahre seitdem demonstrativ über alle roten Fußgängerampeln, die ich finden kann.
Ansonsten besteht Danzig für mich aus einem Gegensatz zwischen historischer Architektur in der Altstadt mit reichlich Touristennepp und einer 6-spurigen Pracht- und Marschierstraße aus Sowjetrepublik-Zeiten, die vom Zentrum in die Wohngegenden führt, komplett mit Panzer als Denkmal.

Panzer-Denkmal
Panzer-Denkmal

Und dem Gegensatz zwischen durchschnittlichem Brutto-Monatseinkommen eines Arbeiters von 4.000 Zloty und Mengen an teuren Autos und Restaurants, die man sich davon niemals leisten könnte.
Und was nehmen Birgit und Emma aus Danzig mit? Bernstein.

Denkmal auf der Westerplatte
Denkmal auf der Westerplatte

In Danzig gibt es auch noch die Westerplatte, an der der zweite Weltkrieg begann. Schiffe und Boote, die an einem Denkmal auf der Westerplatte vorbeifahren, sollen ihre Nationalflagge dippen (kurz herunternziehen oder nehmen und wieder hochziehen). Auf dem Rückweg hat Emma das gemacht.

Touristen
Touristen

Was wir bisher noch nicht so richtig hatten sind nette Segler von anderen Booten, mit denen man Erfahrungen und Tips austauscht und eine nette Zeit verbringt – gerne Familien mit Kindern. Ich betrachte jedes deutsche Boot interessiert und hier und da ist etwas dabei aber keine Kinder und nicht so wie auf unserer Reise 2013 und 2014. Wenn wir Lust auf soziale Kontakte hatten, konnten wir bei jedem beliebigen Langfahrtboot (die erkennt man sofort) anklopfen, Hallo sagen und hatten sofort eine Beschäftigung für den Abend und vielleicht neue Freunde. Das liegt daran, daß die Langfahrtsegler ein extrem stark gefilterter Teil der Bevölkerung sind. Ich weiß nicht genau, warum es das auf der Ostsee bisher nicht gegeben hat. Wahrscheinlich ist die Filterung noch nicht stark genug. Mal sehen was noch so kommt.

Marina Gdansk
Marina Gdansk

Wir waren eine ganze Woche hier, aufgehalten von 3 Tagen Ostwind (den brauchen wir bitte erst in der 3. und 4. Augustwoche) und einem Tiefdruckgebiet mit stürmischem Westwind. Neben Besichtigungen haben wir die Tage auch verbracht mit Einkäufen im Einkaufszentrum,

Ostsee mit Hansestädten als Bodenschmuck im Einkaufszentrum - aber wo ist die westliche Ostsee?
Ostsee mit Hansestädten als Bodenschmuck im Einkaufszentrum – aber wo ist die westliche Ostsee?
Selfie-Box 1
Selfie-Box 1
Selfie-Box 2
Selfie-Box 2
Selfie-Box 3
Selfie-Box 3

diversen Supermärkten (96 Flaschen Sprudelwasser zu je 15 Euro Cent. Pfand gibt es nicht. 4 Fahrten mit dem Klapprad),

ohne die Klappräder wären wir verloren
ohne die Klappräder wären wir verloren

Verköstigungen von Salzkräckern als Ersatz für unseren erschöpften Vorrat an TUC Keksen sowie Tütensuppen für Nachtwachen und mit Wäschewaschen. Mit Birgits Nähmaschine haben wir auch noch 5 Mückennetze für die Decksluken und eines für den Niedergang genäht und ich habe eine Farbrolle besorgt, um damit das Sprayhood zu imprägnieren, sobald es aufhört zu regnen. Ich habe auch noch die Firmware im Router upgedated und alle Mediathek-Folgen von Emma und Filme auf eine neue Wechselfestplatte kopiert und diese an den Router angeschlossen. Solche Dinge würde ein normaler Mensch nicht im Urlaub machen aber für Langfahrtsegler gehört es nun mal dazu. Ich vermute, daß mindestens ein Viertel, eher ein Drittel der Zeit verbracht wird mit Dingen, die zu Hause 10 mal schneller gingen (z.B. Wäsche waschen) oder die man gar nicht machen würde (z.B. Ersatz für TUC-Kekse suchen). Schule ist auch etwas, das wir zu Hause nicht machen würden. Jetzt an 5 Tagen in der Woche mehrere Stunden.
Dazu kommt dann noch das eigentliche Reisen und die Vorbereitung davon (z.B. jeden Tag 10 Minuten Wettervorhersage ansehen und überlegen, wann wir weiterfahren, oder herausfinden, ob das russische Schießgebiet 117 gesperrt ist, wenn wir durch wollen).
Insofern gehen die 7 Tage in Ordnung. Jetzt muß es dann aber mal weiter gehen.