Ist es ein Land oder ist es keins?

Zwischen dem südlichen Finnland und der Küste von Schweden nördlich von Stockholm liegt ein Schärenmeer, das den Bottnischen Meerbusen (den oberen Teil der Ostsee) fast vom Rest abtrennt. Der Hauptteil dieser Schären sind die Åland Inseln. Sie haben:
– eine eigene Regierung,
– eine eigene Flagge,
– eine eigene Top-Level-Domain (.ax),
sind aber doch kein eigenes Land sondern gehören zu Finnland. Finnisch wird dort aber auch nicht gesprochen sondern schwedisch (Haupt-Finnland ist zweispraching finnisch und schwedisch und Åland ist einsprachig schwedisch).
Die Frage, ob es ein Land ist, ist für uns von besonderer Bedeutung, weil wir von Oma finanzielle Mittel zur Anschaffung von Tinneff zur Verfügung gestellt bekommen haben (sog. „Luxusgeld“) und wir Emmas Anteil auf die besuchten Länder aufgeteilt haben. Sie argumentiert nun, Åland wäre ein Land und ihr stünde weiteres Luxusgeld zu. Das Argument, daß, selbst wenn wir bei der Land-Frage einen Fehler gemacht hätten, wir diesen jetzt, im vorletzten Land, nicht mehr heilen können, läßt sie nicht gelten. Dann muß eben zusätzliches Luxusgeld bereitgestellt werden, egal woher.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern finden wir auch keine klaren Hinweise darauf, wann wir es betreten. Irgenwo im Schärengewirr verläuft eine Grenze, aber sie ist nicht in Seekarten eingetragen. Wir erkundigen uns daher bei anderen Seglern, wann wir die finnische Gastlandflagge herunternehmen und die Åländische setzen sollen.

Yoga in der Abendsonne vor Anker
Yoga in der Abendsonne vor Anker

Aber zunächst mal kommt in Hanko (liegt zweifelsfrei in Finnland) unser Freund Peter mit Sohn Julius an Bord. Hanko erreichen wir von Espoo nach zwei Tagen motoren und motorsegeln durch das Schärenmeer. Auf schwedisch heißt die Inselwelt „Skärgård“ (Schärengarten). „Meer“ gefällt mir aber besser.
Inseln verschiedenster Art kamen in Emmas Leben schon oft vor. Als sie 3 Jahre alt war und wir vor Ærøskøbing ankerten, kannte sie das Wort „Insel“ noch nicht. Sie hat auf meine Frage, wo wir mit dem Dinghy hinfahren sollen, auf eine kleine Insel (Dejrø) gezeigt und gesagt: „zu der kleinen Welt da.“
Auf unserer langen Reise 2013 und 2014 haben wir 6 Monate auf den Kanarischen Inseln und den Azoren-Inseln verbracht. Dann kam der lange Schlag zurück nach England. Nach 8 1/2 Tagen sind wir angekommen auf den Isles of Scilly vor der Küste Englands ganz im Süd-Westen – wieder Inseln. Emma hatte zu diesem Zeitpunkt wohl die Erinnerung an „Festland“ verloren und lebte in einer Welt aus Inseln. Ein paar Tage später ging es nach Falmouth. Als es in Sicht kam, hat Emma gefragt: „wie heißt diese Insel?“. Ich habe einfach nur „England“ geantwortet, den schließlich ist es ja eine Insel (die Bewohner der Isle of Wight an Englands Südküste nennen die England-Insel schließlich auch „North Island“). Der nächste Schlag ging nach Plymouth und als das in Sicht kam, habe ich auf Emmas Frage, wie diese Insel heißt, wieder „England“ geantwortet. Da kam Protest: „Aber auf England waren wir doch gestern schon!“
Hier im Inselmeer gibt es erstklassiges Anschauungsmaterial zum Thema Größe von Inseln.
Groß: man kann ein Auto mieten und drauf rumfahren; es gibt Fähren und manchmal einen Flughafen; z.B. Saaremaa
Mittel: man kann einen ganzen Tag drauf herumwandern und kommt trotzdem nicht ganz rum; z.B. Kökar
Klein: man kann prima drauf spielen und in einer halben Stunde herumlaufen; z.B. Rödhamn
Winzig: mann kann gerade noch darauf landen und ein paar Schritte tun; z.B. Julieö 1 und 2
Super-winzig: sie kuckt nur ein paar Zentimeter aus dem Wasser und ist immer naß, weil sie ständig von Wellen überspült wird; man kann nicht drauf landen, weil man ausrutscht und hinfällt.

auf den Schären muß man sich dem Fels anpassen (Hanko Hafencafé)
auf den Schären muß man sich dem Fels anpassen (Hanko Hafencafé)

Hanko wird als das Boots-Mekka von Finnland angepriesen, ist aber nicht besonders groß und ziemlich touristisch. Im Hafen ist ein großer Markt in Gang. Es ist voll. Die Hafenmeisterin ruft andere Kunden an, die einen Platz reserviert haben. Sie brauchen ihn nicht und er gehört uns. Beim Herumsuchen finde ich das Boot Boreas mit Marlies und Achim, die wir schon in Kuressaare getroffen hatten. Wir verabreden uns auf ein Bier. Hafenmeisterei, Hafencafe und Waschräume bestehen aus einem Container-Arrangement. Oben drauf steht die Sauna, auch ein Container. Die meisten Häfen in dieser Gegend haben eine Sauna. Entweder ist es eine kostenlose öffentliche, in der Mann und Frau getrennt sind und wo Badekleidung getragen wird, oder man kann die einzige Sauna am Ort für sich und seine Familie oder Freunde buchen und bezahlen. In Hanko ist es ersteres.

schlechtes Wetter
schlechtes Wetter
und gutes Wetter
und gutes Wetter

Für den Weg nach Mariehamn, der Hauptstadt der Åland Inseln, suchen wir uns aus den Tips von Matti aus: Hiittinen, Utö, Kokär und Rödhamn. Die Hauptwindrichtung ist Süd-West, also meistens gegenan. Da wir ja den Linien folgen sollen und überall Hindernisse im Weg sind, geht Kreuzen schlecht und wir müssen viel motoren. Utö liegt weit außen in den Schären (20 Meilen südlich von dort ist die Estonia gesunken) und es gibt nicht mehr viel Schutz gegen die See. Auf dem Weg dahin frischt der Gegenwind auf 20 und mehr Knoten auf. Das Boot stampft sich in der See fest und wir müssen unfreiwillig einen weiteren Tip von Matti mitnehmen: Jurmo. Das allerdings nur, um im Lee von Jurmo für ein paar Stunden Schutz zu suchen. Später am Abend, in den letzten Stunden des Tageslichts, läßt der Wind etwas nach und wir schaffen das letzte Stück bis Utö, indem wir die Linien verlassen und uns zwischen allen verfügbaren Schären hindurchwinden, um deren Lee auszunutzen. In der Bucht von Utö liegen wir dann wie in Abrahams Schoß.

Utö Inselidyll
Utö Inselidyll
Wasserschlange auf Utö
Wasserschlange auf Utö

Während am nächsten Tag Familie und Besuch die Insel erkundet, ersetze ich einen gebrochenen Scherstift am Bugstrahlruder, der am Vorabend ohne weiteren Grund kaputt gegangen ist. So steht es ja in den meisten Reiseberichten: um die Welt segeln bedeutet, sein Boot an lauter exotischen Plätzen zu reparieren. Ich bin aber stolz, weil ich einen Ersatz-Scherstift dabei habe und auch den speziellen extra langen Inbusschlüssel.

Ersatz eines zerbrochenen Duschkopfs der Dusche auf der Badeplattform in Mariehamn
Ersatz eines zerbrochenen Duschkopfs der Dusche auf der Badeplattform in Mariehamn
Ankern in der Bucht vor Sandvig
Ankern in der Bucht vor Sandvig

Später am Tag geht es weiter nach Kokär, wo wir zwei Nächte ankern in einer Bucht vor dem süßen Hafen Sandvig, der auch den Umschlag des Törnführers für die Åland Inseln ziert, den wir von Marlies und Achim geliehen bekommen haben.

Ergebnis unseres ersten Ankerversuchs in Sandvig
Ergebnis unseres ersten Ankerversuchs in Sandvig
das alte Schiff ist das Hafenschild von Sandvig
das alte Schiff ist das Hafenschild von Sandvig
hier tobt das Leben in Sandvig
hier tobt das Leben in Sandvig
Solche "Sammelbriefkastenanlagen" gibt es häufig; diese ist besonders aufwendig
Solche „Sammelbriefkastenanlagen“ gibt es häufig; diese ist besonders aufwendig

Peter nutzt eine Schwäche der Demokratie: wenn neun Leute keine große Meinung zu etwas haben, der zehnte aber sehr dafür ist, dann kann dieser der Reihe nach auf die anderen einwirken und so schließlich eine Entscheidung in seinem Sinne herbeiführen, obwohl es nicht die Präferenz der Mehrheit ist. In diesem Fall ging es um einen Wanderpfad durch die Schärenlandschaft von Kokär. Es waren nur ein paar Kilometer, aber die mußten mehr kletternd als wandernd zurückgelegt werden und es dauerte den ganzen Tag. Sehr anstrengend, aber auch sehr schön.

"Wanderweg" über Kokär
„Wanderweg“ über Kokär
Haus und Vorgarten paßt genau auf die Schäre
Haus und Vorgarten paßt genau auf die Schäre
Rödhamn Inselmitte
Rödhamn Inselmitte

Der nächste Stop, Rödhamn, war ein Hit. Ein durch Schären sehr gut geschützter kleiner Hafen mit nettem Café, in dem Kanelbullar (eine Art Franzbrötchen) und Kardamon Kaka (Kuchen) sowie morgends Brötchen selbst gebacken werden, und zwar ohne Strom und ohne Wasser aus der Leitung. Das Wasser muß aus einem Brunnen mit der Hand gepumpt und etwa hundert Meter geschleppt werden. Die Brötchen werden morgends auf das Vorschiff geworfen und auf der Tüte steht der Wetterbericht für den Tag.

Wetterbericht auf der Brötchentüte (3-9 m/s heißt 3 bis 5 Beaufort)
Wetterbericht auf der Brötchentüte (3-9 m/s heißt 3 bis 5 Beaufort)
Hafen Rödhamn
Hafen Rödhamn
frühere Sendestation auf Rödhamn
frühere Sendestation auf Rödhamn

Man kann die Felseninsel in einer halben Stunde umwandern bzw. umklettern (einen Weg gibt es nicht, da alles Fels ist) und außer dem Café gibt es vielleicht 10 weitere Häuser – eines davon ein Museum der ehemaligen Funkpeil-Sendestation, eines ein Bettenhaus z.B. für Sommercamps von Kindern und eines – richtig geraten – eine Sauna.

ohne Worte
ohne Worte
Baden in Rödhamn
Baden in Rödhamn

Zu unserer großen Freude treffen wir eine deutsche Segler-Familie, die eigentlich gar nicht deutsch ist, denn sie leben ständig in Stockholm und die Kinder Mathilda und Jakob sind zweisprachig. So richtig zweisprachig: wenn sie vorher in der schwedischen Schule waren, sprechen sie schwedisch miteinander; im Urlaub mit den Eltern sprechen sie deutsch miteinander.
Mathilda ist in Emmas Alter und weil richtiges Sommerwetter ist, gehen sie sofort zusammen baden.

Fäkalientanks abpumpen - auf Rödhamn mit Muskelkraft
Fäkalientanks abpumpen – auf Rödhamn mit Muskelkraft

Wir können nur eine Nacht bleiben, verabreden uns aber mit Franka, Niels, Mathilda und Jakob in Mariehamn, wohin es nur ein paar Meilen sind.

Peter und Julius verlassen uns
Peter und Julius verlassen uns

In Mariehamn liegen wir 4 Tage. Peter und Julius nehmen am ersten Morgen die Fähre nach Stockholm. Birgit und Emma kaufen einen Haufen Zeug in der kleinstädtischen Einkaufsstraße. Ich besuche das Maritim-Museum und gebe das erste von meinem Anteil des Luxusgeldes aus für einen speziellen Schnappschäkel für Heckboien.

endlich korrekte Verhältnisse: in Mariehamn ist der Bootsausrüster (Kalmers) genauso groß wie Elektronikmarkt und Autozubehörhandel
endlich korrekte Verhältnisse: in Mariehamn ist der Bootsausrüster (Kalmers) genauso groß wie Elektronikmarkt und Autozubehörhandel
Pommern - der hintere Mast fehlt wegen der Restauration
Pommern – der hintere Mast fehlt wegen der Restauration

Hier liegt auch das Fracht-Segelschiff Pommern. Am Namen, der mit P anfängt, erkennen eingeweihte, daß es mal der Hamburger Reederei Laeisz gehört hat, so wie auch die Peking, die gerade wieder in Hamburg angekommen ist nach vielen Jahrzehnten im South Street Seaport Museum in New York, wo ich öfter mein Mittagessen davor gegessen habe, als ich ein Jahr an der Wall Street gearbeitet habe.
Die Pommern ist im Originalzustand erhalten, nicht in ein Segelschulschiff umgebaut worden wie z.B. die Krusenstern (früher Padua). Sie wird auch nicht als Veranstaltungszentrum oder Jugendherberge genutzt, wie die Passat in Travemünde, und ist nicht völlig heruntergekommen, wie die Peking jetzt vor der millionenteuren Restaurierung, und ist damit wohl einmalig. Daß die Pommern in Mariehamn liegt, ist kein Zufall, denn gegen Ende der Segelschiffzeit hat der hier ansässige Reeder Gustav Erikson viele Frachtsegler für wenig Geld übernommen und bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs kostendeckend betrieben mit dem Transport von Weizen aus Australien nach Europa. In den zehn Jahren vor Kriegsausbruch gehörten praktisch alle verbliebenen Frachtsegler der Erikson-Reederei und hatten Mariehamn als Heimathafen.
Die Pommern wird allerdings gerade renoviert und ich konnte sie deshalb nicht  besichtigen.

Nach Mariehman geht es für zwei weitere Nächte nach Rödhamn und dann von dort, zusammen mit unseren deutsch-schwedischen Freunden, weiter nach Schweden in die Stockholmer Schären.

Blaubeeren gepflückt auf Rödhamn
Blaubeeren gepflückt auf Rödhamn

60 Grad und 6 Minuten, die Breite von Mariehamn, ist deshalb das nördlichste, was wir auf dieser Reise erreicht haben. Ab jetzt sind wir auf der Heimreise und ich habe deshalb eine leichte Depression. Irgendwann werden wir wohl nochmal herkommen müssen, um die Mitternachtssonne und die Höga Kusten zu sehen. Aber Pläne haben ist ja auch nicht schlecht.