Санкт-Петербург

So schreibt man Sankt Petersburg im russischen Alphabet. Da uns die Zeit fehlte, mit dem Boot hinzufahren, haben wir den Bus von Tallinn aus genommen.

Busbahnhof
Busbahnhof

An einem windigen und naßkalten Morgen haben wir das Boot abgeschlossen und sind mit Sack und Pack durch das Olympiazentrum gelaufen. Um drei Tage ohne Schulunterricht vor der Schulbehörde zu rechtfertigen, wird unser Ausflug als Klassenfahrt deklariert. Vom Tallinna Bussijaam ging ein Ecolines-Bus 290 km durch Estland und Rußland ins ehemalige Leningrad. Dieser Name hat mich an den Leningrad-Cowboys-Film von Aki Kaurismäki erinnert. Ich habe mir vorgenommen, Emma dieses Stück Kulturgut nahezubringen.

Grenzkontrolle
Grenzkontrolle

Schon bei Abfahrt bekommen wir Formulare für die Grenzkontrolle, die wir während der Busfahrt gewissenhaft ausfüllen. Als wir schließlich vor der Kontrolleurin stehen, zerreißt sie unsere Formulare. „You must do it again“ heißt es mit scharfem Akzent. Ich weiß nicht warum und wenn die alten falsch waren, dann sind doch die neuen auch wieder falsch. Je ungehaltener ich werde, desto freundlicher und fröhlicher wird Birgit – und füllt mit Freude alle Formulare noch mal aus. Sie findet, die Grenzbeamtin sieht aus wie die Kommisarin aus Bibi und Tina 2. Fröhlich singend: „Fluch doch, schrei doch…“ reisen wir nach Russland ein und steigen wieder in den Bus. Ein Foto der Komissarin gibt es aber leider nicht.

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Der Bus wirft uns an irgendeiner Straßenecke in St. Petersburg raus. Geplant oder gebucht haben wir nichts. Birgits Vodafone-Handy bekommt eine SMS, daß man für 5 Euro pro Tag eine Datenverbindung kaufen kann. Bei Telekom gibt es das nicht. Wieso nicht? Egal, so hatten wir also Google Maps und Lollipops für Hotels in der Nähe. Körperliche Stärkung befand sich sogar direkt vor unserer Nase.

Blubberwasser
Blubberwasser

Der erste Lollipop war falsch oder wir konnten es nicht finden. Der zweite hatte nur ein Zimmer für die erste Nacht. Mit dem dritten wurden wir handelseinig für eine „Suite“ für durchaus westeuropäische Preise, dafür aber mit Blubberwasser im Bad, für Emma viel interessanter als irgendwelche Zwiebeltürme, die wir auf dem Weg dorthin gesehen haben.

von der Brücke vor unserem Hotel
von der Brücke vor unserem Hotel

Mit einem ganzen und einem angebrochenen Tag für Besichtigungen müssen wir eine enge Auswahl treffen. Emma hat vom Bernsteinzimmer gehört und nach dem ganzen Bernstein der letzten Wochen will sie es sehen – koste es, was es wolle. Wie wir feststellen, wird es einen ganzen Tag kosten (und einiges Geld), denn es liegt 25 km außerhalb der Stadt. Das Hotel bietet uns für ein kleines Vermögen eine Tour mit einem Touristenbus an. Wir wollen lieber das richtige Leben sehen und mit Metro und Linienbus hinfahren. Auf gehts!

Sankt Petersburger Metro
Sankt Petersburger Metro

Mit der Rolltreppe geht es unheimlich viele Meter in die Tiefe, doppelt so viele wie bei der U2 am Hauptbahnhof, dann 6 Stationen in Richtung des riesigen Stadteils „Pushkin“.

hier wohnen die Millionen
hier wohnen die Millionen

Dort irren wir eine halbe Stunde herum und finden schließlich einen abgehalfterten Mercedes Sprinter, der uns den größten Teil der Strecke befördern soll. Von den 5 Millionen Einwohnern sind wohl nur etwa 2 mit der Metro angebunden. Die restlichen 3 müssen mit vermutlich tausenden solcher Kleinbusse klarkommen. Man bedient die Schiebetür selbst und zahlt 40 Rubel in Bar an den Fahrer. Bus und Fahrer gehören wohl dauerhaft zusammen, denn der Fahrerbereich ist mit Sitzauflagen, Duftbaum und Handyhalterung stark personalisiert. Es erinnert mich an Bilder aus Afrika oder der Karibik aber es funktioniert tadellos. Nach 30 Minuten Fahrt durch endlose Hochaus- und Einkaufszentrum-Siedlungen erreichen wir Tsarskoye Selo, ein Ensemble aus Palästen in einem riesigen Parkgelände. Der größte der Paläste, der Katharinenpalast, wurde für die Tochter Katharina der Großen gebaut.

Eingang von Tsarskoye Selo
Eingang von Tsarskoye Selo
Schlange bis zum Horizont
Schlange bis zum Horizont

Man zahlt Eintritt für den Park und gewinnt dadurch das Privileg, sich in eine unheimlich lange Schlange stellen zu dürfen, bei weitem die längste, in der ich je stand, und, so mein Vorsatz, je wieder stehen werde. Obwohl Schilder genau dieses Verhalten verbieten, besteht die Schlange bis kurz vor dem Ziel aus Platzhaltern, die öfter wechseln. Kurz vor dem Ziel verfünffacht sich die Menge der Menschen wieder. Auch Birgit und ich wechseln uns mit Schlangestehen ab. Aus dem vielsprachigen Mikrokosmos um uns herum vernehmen wir gerüchteweise, daß jede Menge Busladungen von Touristen von Kreuzfahrtschiffen außer Sicht an der Schlange vorbeigemauschelt werden. Das ist also die Dienstleistung, die wir für das kleine Vermögen im Hotel hätten kaufen können.

Spiegel-Teiche vor dem Katharinenpalast
Spiegel-Teiche vor dem Katharinenpalast
die Baume werden rasiert
die Baume werden rasiert

Birgit und Emma nutzen die Zeit für eine Kutschfahrt und landen so auf unzähligen Urlaubsfotos japanischer Touristen. Als sie wiederkommen regnet es. Birgit zaubert ein Plastik-Regencape aus ihrer Handtasche. Sie trägt es seit 2 Jahren herum. Das ist es also, was Frauen immer in ihrem Handtaschen haben.

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Dann, auf der Zielgeraden, beschleunigt sich die Schlange merkbar. Jetzt, gegen Ende des Tages, sind die Kreuzfahrtouristen wohl wieder abgereist.

auf der Zielgeraden
auf der Zielgeraden

Nach gut 3 Stunden betreten wir das Gebäude und kaufen eine Eintrittskarte. Wir verzichten auf Kopfhörer für eine geführte Tour, was uns aber auch nichts hilft, denn wir müssen mit den Zuhörern der Tour zusammen warten. Als wir schließlich 10 Meter gewonnen haben, werden wir aufgefordert, auf Los zurückzugehen, denn wir tragen keine Überschuhe aus Stoff. Der Kopfhörer hätte uns wohl drauf hingewiesen. Mit der Geduld am Ende, beginnen wir, uns rücksichtslos an den Menschenmassen vorbeizudrängeln.

Palast 1
Palast 1
Palast 2
Palast 2

Es geht der Reihe nach durch diverse kunstvoll arrangierte Räume des Palastes, gefüllt mit so vielen Menschen, daß man oft kaum umfallen könnte. Der obszöne Reichtum, der zur Schau gestellt wird, und die drückenden Menschenmassen wirken zusammen. Ich versuche, die Sache möglichst schnell hinter mich zu bringen. Emma scheinbar auch.

das Foto, das es gar nicht geben dürfte
das Foto, das es gar nicht geben dürfte

Zwischendrin kommen wir durchs lang erwartete Bernsteinzimmer. Emma sagt, sie hätte es sich anders vorgestellt. Sie macht ein Foto, wird sofort darauf hingewiesen, daß das in diesem Raum verboten ist, aber das Bild ist im Kasten und die Kamera wird zum Glück nicht beschlagnahmt.

Wir lernen, daß Vorbeidrängeln besser geht, wenn Emma vorangeht. Die Menschen machen ihr Platz, weil sie denken, sie würde ihre verlorenen Eltern suchen. Dann rutsche ich hinterher und Birgit bleibt nichts anderes übrig, als auch mitzukommen. Mit dieser Taktik sind wir nach 20 Minuten im Kellergang Richtung Ausgang. Birgit ist enttäuscht, daß es schon wieder vorbei ist, aber mir geht es schlagartig besser. Hier, wo sich die Menschenmengen verlaufen und man nicht alle paar Meter aufgehalten wird, habe ich auch Muße, Fotos und Erläuterungen der jahrzehntelangen Restauration des Palastes anzusehen. Die Augen der Restaurateure auf den Bildern leuchten vor Stolz auf die erbrachte Leistung. Es ist wohl wirklich ein historisch wichtiges Dokument, aber die Räume wirken auf mich, als ob es nur um Zurschaustellung von Reichtum ginge, ein Wettkampf mit den anderen Königshäusern Europas darum, wer am meisten Geld verschwenden kann. Wenn Bilder wie diese in der Zeit vor der kommunistischen Revolution 1917 in der Bevölkerung bekannt waren, dann war die Zarenfamilie selbst Schuld an ihrem Niedergang. Ich hätte mich jedenfalls gleich am Ausgang einer Oktoberrevolution angeschlossen, wenn gerade eine im Gange gewesen wäre.

Birgit und Emma sehen das ganze viel weniger politisch und kaufen statt dessen im Museumsshop und an den Ständen am Ausgang des Parks reichlich Tinneff.

Tinneff
Tinneff
aus dem fahrenden Hop on-hop off-Bus
aus dem fahrenden Hop on-hop off-Bus
vom Balkon des ältesten Einkaufszentrums der Welt
vom Balkon des ältesten Einkaufszentrums der Welt

Nach einer Runde mit Hop on-Hop off und einer Stärkung bei Макдоналдс geht es am nächsten Tag heimwärts mit dem Bus. Das Chemieklo ist kaputt oder übergelaufen. Die Passagiere werden nach jeder Benutzung von einer Welle übelsten Gestanks heimgesucht. Birgit und Emma freuen sich die ganze Fahrt auf die strenge Komissarin an der Grenze, werden aber leider enttäuscht. Es ist eine andere Beamtin.

Wir sind froh, als wir gegen Mitternacht wieder zu Hause sind. Das ist natürlich unser Boot. Zu unserem Boot nach Hause gekommen bin ich schon öfter. Einmal sogar aus Hamburg, im Herbst 2013 auf unserer langen Bootsreise, als ich von Lissabon aus nach Hamburg zum Zahnarzt geflogen bin. Zu Hause ist ein relativer Begriff.